
Leseprobe
Verschleppt
Chira spuckte angewidert zu Boden. Das ihr angebotene Essen war erneut ein roher Hase. Sein noch warmes Blut
tropfte auf ihre Oberschenkel. Ja, sie war am Verhungern. Ja, sie hatte bereits rohes Fleisch eines Hasen
hinuntergewürgt, um nicht zu verhungern ... aber zu keiner Zeit würde sie aus der Hand des Clanältesten fressen.
Verzweifelt versuchte sie nicht zu Deicere hinüber zu sehen. Die hagere Gestalt stand an der Wand und versuchte
unsichtbar zu sein. Wenn der Clanälteste bemerkte, dass ihr sein kleiner Lakei hin und wieder brauchbares Essen
zukommen ließ, würde er ihn gewiss beseitigen. Sie durfte ihn nicht auffliegen lassen. Sein Mitleid war ihre letzte
Chance hier raus!
„Gut ... genug gespielt. Kommen wir zurück zu meiner Frage von letztens. Was genau ist die Quelle deiner Macht.
Du sagtest etwas von einem Edelstein. Du nanntest ihn Da‘famnes, ja?“, wollte er wissen und warf den toten Hasen
achtlos gegen die Wand.
Chira sah dem geschundenen Tier mit sinkender Hoffnung dabei zu, wie das Blut aus seinem kleinen, entstellten
Körper ronn. Wie lange noch, bis sie sein Schicksal teilte?
Ein Schlag in ihr Gesicht riss ihren Kopf herum und sie sah Sterne. Verdammt!! Ihr menschlicher Körper hielt
eine derartige Behandlung nicht aus! Tränen stiegen ihr in die Augen. Verdammt ... sie war eine Kriegerin.
Flennen kam nicht in Frage!
„Oh ... verzeih ... ich vergesse immer wieder, dass du jetzt menschlich bist. ... So verletzlich. Wollen wir
herausfinden, ob du dich wieder verwandeln kannst?“, fragte er und seine Neugierde war nicht gespielt ... er
wollte tatsächlich eine Antwort auf diese Frage finden.
Scheiße ... sie wollte nicht, dass er ihrem menschlichen Körper Schmerzen zufügte. Es war eine Sache, wenn er
sie als Kriegerin verletzte. Das war sie gewohnt! Mit diesen Schmerzen konnte sie umgehen. Aber als Mensch ...
verdammt!!
„Kann ich nicht“, sagte sie mit aufkommender Angst, „ich habe es bereits versucht.“
„Bitte ... Großvater“, mischte sich Deicere mit ungewohnt entschlossener Stimme ein, „sie ist Mensch. Keine
körperlichen Schäden, ich kann nicht alles heilen. Lebend dient sie dir sicherlich mehr. Warte ab, in den
nächsten zwei, drei Tagen sollte die Wirkung deines Bannzaubers verflogen sein und sie steht wieder als
Kriegerin vor dir.“
Für einen endlos langen Moment herrschte angespannte Stille. Chira wagte es nicht zu atmen. Das Gesicht des
Clanältesten war ausdruckslos, aber seine große Hand schloss sich immer wieder zu einer Faust. Dann schlich sich
langsam ein kleines Lächeln auf seine Lippen und er legte Chira seine Hand schwer auf die Schulter.
„Deine Einwände sind berechtigt. ... Geh jetzt. Für heute brauche ich dich hier unten nicht mehr. Stell sicher“,
wies er seinen Untertan streng an, „dass ich genug zu Fressen auf meinem Zimmer habe, wenn ich hier fertig bin.
... Du musst wissen, kleine Kriegerin, ich bin danach immer sehr, sehr hungrig und es wird mir schwer fallen
dich nicht aufzufressen.“
Die letzten Worte wisperte er ihr ins Ohr und jeder Muskel in ihr spannte sich verzweifelt an. Sie wollte
schreien ... nach ihrem Bruder, nach Deicere ... egal wem, irgendjemanden der ihr helfen würde. Aber sie wusste,
dass das nichts bringen würde.